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Ideologien verderben die Wirtschaft

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I.
Eine Ideologie könnte man bezeichnen als ein großes Ideengeflecht, das sich übernommen hat. Sie prägt und verfälscht das Denken gleichermaßen, denn sie strebt im geistigen Bereich eine Monokultur (einen Fundamentalismus) an. Es ist nicht leicht, ihr zu entkommen. So hat auch der kritische Geist es schwer, ihrer pervertierten Logik nicht zu verfallen. Und wenn ihm dies persönlich gelingt, so muss er noch immer in der Öffentlichkeit unermüdlich gegen die Trägheit der fest gefahrenen Denkmuster ankämpfen. Ihm wird in der Debatte gern vorgehalten, die eisernen gedanklichen oder gesellschaft lichen Gesetze einfach nicht verstanden zu haben, da, wo er eben diese schon längst zu Ende gedacht und verworfen hat.

Wir leiden so gut wie alle meistens sehr lange, wenn nicht ewig, unter Wahnvorstellungen, die so verbreitet sind, dass sie uns wie unter die Haut gewachsen sind. Dazu gehören in anderen Gefilden zum Beispiel die romantische Liebe und die monogame Ehe. Auch wenn ein Einzelner ansetzt, sich zu befreien, so wird er von den Anderen praktisch in die Konformität zurückgedrängt. Es gibt gesellschaftliche Gruppie rungen, die von der Vorherrschaft bestimmter Ideen profitieren und somit, wenn auch nicht dessen bewusst, daran interessiert sind, diese aufrecht zu halten. Es wird fromm von Werten geredet, obwohl damit eigentlich gemeint ist, dass die Werte von einigen — präziser gesagt, die Prioritäten von einigen — den Anderen aufgezwungen werden sollen. Dies stimmt unab hängig davon, ob die Einigen eine Mehrheit oder eine kleine Minderheit bilden.

Eine vorderste Aufgabe der Ethik — und der Philosophie überhaupt — liegt in der Bekämpfung oder auch der Relati vierung von Ideologien. Hier und heute haben wir es mit der Wirtschaft, mit Markt & Märkten, mit unsichtbaren Händen und dergleichen mehr zu tun. Es handelt sich bei einigen der besprochenen Ideen letztlich um Erkenntnisse und Errungen schaften, die nicht aus der Welt zu denken sind, die aber auf einmal ein Eigenleben führen, das nicht haltbar ist.

II. Geld, verkehrt
So wird in der Politik und in den Medien viel von viel Geld geredet. Das hat Anlass zu folgender Karikatur gegeben: Zwei Erdlinge landen auf einem Planeten und erklären dem erstaun ten Außerirdischen: „Wir kommen von dem Planeten Erde und müssen viel Geld ausborgen.“ (Als ob das Problem eine Sache der Geldmenge wäre.)

Man kann eine ähnliche Überlegung über Gewinne anstellen: Natürlich braucht eine Firma auf Dauer Gewinne, wie wir alle Sauerstoff zum Atmen. Es ist aber nicht Sinn des Lebens, möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen.

Geld wird gemeinhin an erster Stelle als Tauschmittel und an zweiter Stelle als Speichermedium verstanden. Sobald die Kette an Tauschvorgängen unterbrochen wird, kommt der Aspekt des Geldes als Speichermedium zur Geltung. Man kann das Geld auch als anonymisiertes Versprechen verstehen. In dieser Rolle ist es dem Gold ähnlich: Es verheißt Reichtum, ohne selbst viel Nutzen zu haben.

Wenn aber von Billionen geredet wird, fixiert sich die Aufmerksamkeit auf eine Gesamtheit, die somit von dem eigentlichen Handeln der Menschen untereinander losgelöst

wird. Man greift auf eine Denkweise zurück, die auf diesem Niveau vollkommen unpassend ist. Bei uns zu Hause oder in der Firma ist es einleuchtend, dass ein Mehr an Geld oder Kredit bestimmte Vorteile und Aktivitäten auslösen, und ein Weniger sich zunächst umgekehrt auswirken kann. Die Größenordnung hier und dort ist aber jeweils eine andere.

Man mag sich manchmal wünschen, der eine oder andere Politiker hätte Physik studiert. Von Einstein wissen wir, dass im Weltraummaß und in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit andere Gesetze zur Geltung kommen, als der gute Newton für uns hierzulande festgestellt hat. Die Masse verändert sich, zum Beispiel. Umgekehrt wissen wir seit Max Planck, dass in einer anderen Größenordnung die Möglichkeit einer bestimmten Messung eine anders zu bestimmende Messung unmöglich macht. Bei den Kleinstpartikeln kommt zudem eine andere Mathematik zum Greifen.

Man mag sich wiederum manchmal wünschen, der eine oder andere Politiker hätte Medizin oder Biologie studiert. Schon die Betriebswirte sind darauf gekommen, dass eine Bilanz, gekoppelt mit einer Gewinn & Verlustrechnung, zur Abbildung der Firmengeschehnisse nicht ausreicht: Es kommt eine Kapitalflussrechnung dazu. Aber nicht einmal damit ist es getan.

Man werfe einen Blick auf die Medizin: Die Gesundheit lässt sich nicht auf die Blutmenge reduzieren. Das Blut muss überall hinfließen, wo es gebraucht wird. Es ist nicht einmal homogen. Und so weiter.

So sehen die Anstrengungen der großen Politiker und Finanzleute merkwürdig aus, wenn diese meinen, mit einem Hebel oder auch zwei den Lauf der Wirtschaft ins rechte Bild rücken zu können.

Man spricht landläufig und meist zynisch von der Sprache des Geldes, und dieses wird als lockere Metapher verstanden. Die Metapher ist nicht locker: sie ist präzise und treffend. Sprache ermöglicht es — unter anderem — die Welt abzubilden.

Geld auch. Die Frage wäre dann, wie weit wir es mit der Abbil dung der Welt durch Geld treiben wollen. Dazu die folgende historische Fiktion:

Bartwert

In einem vergangenen Zeitalter pflegte der Mann zum Barbier zu gehen, um sich seinen Bartwuchs mit Messer und Seifenschaum unter Gefahr rasieren zu lassen. Die Dienstleistung wurde bezahlt, somit war ein wenig mehr Geld im Umlauf beziehungsweise war das Geld schneller in Umfluss als sonst. Dann erfand ein kluger Industrieller die Sicherheitsklinge, die wir heute kennen. Damit konnte jeder Mann sich selbst leicht und ohne Verletzungen rasieren. Der Geschäftsmann wurde reich, dafür gab es für die Barbiere diese Arbeit nicht mehr.

Man kann sich nun vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn zwischendurch Fanatiker mit Bartvorliebe die gesellschaftliche Oberhand gewonnen hätten: Das kennen wir nicht nur von manchen islamistischen Ländern, sondern auch von der französischen Revolution, in deren Nachfolge sauber rasierte Männer für Schmarotzer galten.

Bei diesem Szenario wäre der Geldumlauf für das Rasieren vorerst ganz zu Ende, vielleicht bliebe ein wenig für die Bartfrisur übrig. Arge Zeiten für den Industriellen, und eben auch für den Anstieg der Geldmenge, die sonst von den Volkswirten so gern als Maßstab des zunehmenden Wohlstandes angesehen wird.

Die Zeiten ändern sich, die Fanatiker sind geschasst oder ausgelacht, und gerade da, als unser Industrieller den Aufschwung wittert, erfindet ein Aufmüpfiger den Elektrorasierer. Dieser wird reich, der alte Industrielle verarmt, insgesamt aber wird wieder weniger Geld für das Rasieren ausgegeben.

Nun, gepflegter Bart, ungepflegter Bart, Wildwuchsbart oder sauber rasiert: — das darf in liberalen Zeiten Geschmacks sache bleiben, ebenso wie die Wahl, ob — wenn schon — nass oder trocken rasiert wird. Interessant für uns hier ist nur die Beobachtung, dass die Einbindung in die Geldwirtschaft unterschiedlich verläuft. Es handelt sich in diesem Fall zwar um einen sehr geringen Einfluss auf den historischen oder gedachten oder tatsächlichen Geldumlauf, aber es gäbe tausend fach andere, wenn auch weniger anschauliche Beispiele, wie Produkte und Dienstleistungen (gerne heutzutage verwechselt) einerseits und private Handlungen andererseits mit Geld oder auch ohne Geld abgebildet werden. Damit darf man den Statistiken über das Wachstum erstmals skeptisch gegenüberstehen. Man mag zudem in Frage stellen, ob eine Tätigkeit erst mit der Einbindung in die Wirtschaft wertvoll oder doch mitunter weniger wertvoll wird. Man denke etwa an die Vermarktung der sexuellen Reize und deren Ausgliederung aus den familiären und freundschaftsgeprägten Beziehungen.


Die Wirtschaftsleute — ob Wissenschaftler oder Geschäfts tüchtige — lassen sich leichtfertig oder von ihrer persönlichen Interessenslage her von der Vorstellung verführen, dass mit mehr Geldwirtschaft — und dementsprechend mehr Handel — die Welt besser florieren wird. Dem wird hier entgegnet, man solle sich eher darauf besinnen, dass das Geld letztlich nur ein Mittel darstellt. Es ist als Werkzeug zu begreifen, und jeder Handwerker weiß, dass es kein Universalwerkzeug gibt, so gerne er den Schlüssel als Hammer zweckentfremdet. Oder man bemühe sich einer anderen Metapher: Mit einem Schluck Schnaps mag es einem tatsächlich besser gehen, und mit zwei davon noch geschwungener; wie vieles sonst im Leben kann man aber die Einsicht nicht ewig steigern. Ein Mehr kann sich in ein Weniger umkehren.

So mag eine arme Familie in einem fernen Land Grund besitzer mit Haus und Heim sein, geerbt von den Vorfahren. Papiere gibt es nicht. Theoretisch ließe sich eine Hypothek aufnehmen. Somit würde die theoretische Geldmenge in der Wirtschaft steigen und die arme Familie sähe erstmals wohl habend aus. Es bleibt aber nicht dabei, die Geschichte lässt sich weiterspinnen, sie ließ sich schon mehrfach weiterspinnen und erzeugte ein Gespenst, wo der Familienbesitz letztlich verloren ging.

So lässt sich das zuerst angemessene Vertrauen zum Geldin eine Ideologie verwandeln. Es wird unterschlagen, dass das Geld in erster Linie zur Abbildung von Handelsströmen, Dienstleistungen und Verpflichtungen dient und erst in zweiter Linie, zunächst als Sicherheit, zur Speicherung von „Werten“. Stattdessen entsteht eine Geldgläubigkeit, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass im Kontext von ganzen Volkswirtschaften von einem Geldhahn oder eher dessen Zudrehen gesprochen wird. Es wird von Geld geredet wie sonst von Luft oder Öl.

Man könnte diesen Gedankengang fortsetzen, zum Beispiel, indem man Überlegungen anstellt, ob und wie Besitz monetär abgebildet werden kann. Es gibt aber sittliche Grenzen. So gehört das geerbte Grundstück vielleicht nicht dem derzeitigen Hausherrn: dieser hat es nur als Statthalter inne. Das Grundstück gehört den Enkelkindern, die vielleicht noch nicht geboren sind.

Eine ähnliche und zeitgenössische Überlegung gilt für das sogenannte „Humankapital“: Man kann — darf — sich nicht versklaven. Dieses darf dann doch nicht in den Geschäftsbüchern geführt werden.

Und es wird doch geführt, nämlich unter der Bezeichnung „Firmenwert“.

Die Schlussfolgerung: man verfalle nicht dem Wahn, es ließe sich alles über Geld erledigen. Das weiß eigentlich schon jeder. Und doch gelingt es immer wieder halbklugen Köpfen, die Fronten aufzuweichen, ohne dass die Besonnenen es richtig merken, denn auch diese — wir — bleiben anfällig für leichte (fundamentalistische) Lösungen und nicht zuletzt Geldgier und Ängste. Da helfen ein kritisches Bewusstsein und ein differenziertes Verständnis der Dinge. Dazu gehören allerdings auch die politischen Strukturen und die weitsichtige Kultur, die uns aber fehlen.´

III. Geld, richtig
Um sich von der Ideologie des Geldes zu befreien, behalte man zunächst dessen drei Funktionen im Auge, die mit unterschied lichen Zeithorizonten und Größenperspektiven einhergehen: Tauschmittel; Abbildungsmittel; Planungsmittel.

Alle kennen die Tauschfunktion zur Genüge. Geld als Wertspeicherung auch: hier lässt es sich als Medium der Abbildung und der Planung auffassen. Ähnlich wie man mit einer — gesprochenen, geschriebenen — Sprache mehr oder auch weniger abbildet, so kann man mathematisch Besitz oder zukünftige Ernten (Zahlungsflüsse) mit Geld abbilden. Wenn eine bestimmte Abbildung keinen Zweck mehr erfüllt, beendet man die Abbildung beziehungsweise verfällt sie.

Hinzu kommt — überraschend, wenn man sich noch keine Gedanken gemacht hat — ein Schuldverhältnis, das selbst immer einen Bezug zur Zukunft hat. Man bildet sich leicht ein, dass es Geld ohne Kredit und Schulden geben kann, denn als Einzelner könnte man ohne Schulden leben und müsste wohl auch keine Kredite gewähren; trotzdem könnte er Geld haben: im Portemonnaie oder unter der Matratze, wenn schon nicht bei der Bank. Dieses Geld aber gilt nur als Geld, solange es eine Forderung Anderen gegenüber darstellt. Die Forderung ist freilich unbestimmt, denn der Markt muss nicht unbedingt das hergeben, wonach man verlangt, und auch die Personen, denen gegenüber man Forderungen offen hat, sind unbestimmt. Geld ist anonym. Aber wenn es sich um Geld handelt, so muss man etwas dafür bekommen können, und normalerweise aus einer größeren Bandbreite an Produkten oder Dienstleistungen. Hat man Geld — und sei es noch so wenig —, so ist man Kreditgeber der Gesellschaft gegenüber, und als Kreditgeber kann man etwas einfordern. Wenn etwa aufgrund einer Währungsreform oder einer Hyperinflation dieses Geld nicht mehr Anerkennung erfährt, so hat man kein Geld mehr: die Schuldigkeit lässt sich nicht mehr beziffern.

Das anonyme unbestimmte Schuldverhältnis beinhaltet noch einen Aspekt, der dermaßen offensichtlich ist, dass manche ihn übersehen oder wegschieben mögen: Das Geld wird unter den Menschen verteilt. Oder man stelle sich einmal vor, einer hätte das ganze Geld für sich und würde es nicht verteilen. (Dies bedeutet in der Tendenz auch, dass eine übermässig schiefe Verteilung immer korrigiert werden muss und zwar nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen. Oder sagen wir es so: Das Geld verliert seine Funktion, wenn es zu wenig verteilt wird.)

Die wohl beste Metapher für das Geld bietet uns somit die Zirkulation des Blutes. Es kommt für die Gesundheit nicht so sehr auf die Gesamtmenge an, sondern darauf, dass das Blut in angebrachter Menge überall hinfließt.

Diese verschiedenen Begriffe (Tausch, Schuld, Planung und so fort) hängen untrennbar miteinander zusammen, wie sonst zum Beispiel die Zahlen. Hat man einmal den Gedanken der Zahlenreihe eins bis zwanzig, so ist es unsinnig, so zu tun, als ob eine davon (die Dreizehn etwa) nicht vorhanden wäre.

IV.
Beherrscht man einmal ausdrücklich diese Grundeinsichten beziehungsweise hat man sie gedanklich parat, so kann man viele Debatten in der Finanz und Wirtschaftspolitik anders einordnen und überhaupt relativieren. Man übersetze das Gerede um Staatsschulden und leere Kassen in die Sprache der Verteilung und der Planung. So kann man begreifen, wie Geld — insbesondere Girogeld (Bankengeld, das niemals Münzen & Scheine erblickt) — entsteht und auch wie es — überraschend, ganz normal — vernichtet wird, anstatt dass es weitergegeben und somit ausgegeben wird.

Man denke daran, wie man mit der Planung seiner Zeit umgeht. Mitten im Leben hat man normalerweise verschiedene teils ungewisse Verpflichtungen (Schulden oder Verbindlich keiten), die aber erst in der näheren oder ferneren Zukunft fällig werden; genauer gesagt, erst in dieser Zukunft in Erfüllung gehen können (man kann ja zum Geburtstag nicht vorzeitig gratulieren). Man lebt nicht in den Tag hinein, sondern man trifft Vorkehrungen. Man lebt mit einem Terminkalender. Bei manchen Menschen ist der Terminkalender zum Platzen voll, und zwar Jahre im Voraus. Bei kleinster Verhinderung kommt alles durcheinander. Beweglichkeit gibt es nicht mehr, denn alles ist verplant. So sieht die Hybris der Finanzjongleure aus.

V. Markt & Märkte
So gut wie jeder meint den Begriff Markt zu verstehen, so sehr ist dieser in unserem Wirtschaftsdenken und Alltag verwurzelt. Und doch dürften die Wenigsten ihn rundum überblicken, denn die Perspektiven sind vielfältig: Es spielen allerlei Voreingenommenheiten mit, nicht wenige Mythen und nicht zuletzt inkonsequentes Denken. So relativiert sich der Appell an die Sachzwänge des Marktes stark, wenn einmal die psycho logischen und kulturellen Aspekte mit berücksichtigt werden. Wenn diese weggedacht sind, ergibt sich, dass der Markt so wenig Handfestes hat wie sonst die Strömungen im Strom und die Wolken im Wind. Nämlich erst wenn es zu einer Transaktion kommt, konkretisiert sich der Markt, dann aber ist dieser bis zum nächsten Mal weg. Der Versuch, den Markt als Maschine zu verstehen, gelingt weniger leicht als man annehmen mag, ganz abgesehen davon, dass das Verhalten der Menschen (ihre Psychologie, ihre Soziologie) diesem Verständnis einen Strich durch die Rechnung macht. Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, uns ein Stück weg von der Ideologie des Marktes zu rücken und ihn eher als Mittel zum Zweck in dem Sinne zu verstehen, dass es zuweilen auch andere Mittel und Wege hin zum Zweck gibt.

VI.
Es wird gern von einem Markt gesprochen und übersehen, dass bei einer gelungenen Transaktion, wenn schon ein Markt im Spiel ist, dann gleich mehr als einer. Eigentlich treffen nämlich mindestens zwei Märkte aufeinander. Ein Angebot und eine Nachfrage bilden noch keinen Markt, zwei Angebote & eine Nachfrage, oder umgekehrt ein Angebot & zwei Nachfragen vielleicht doch, wenn hier auch nur im Keim.

Der Austausch Ware/Dienstleistung gegen Geld findet trotzdem immer vor einem gedachten Markt statt. Man hat aber lediglich Ahnungen von diesem gedachten Markt und kaum präzise Informationen. Man ist weiter entfernt vom oder dichter am ideellen Markt dran, beziehungsweise ist dieser kleiner oder größer.

Man könnte es auch anders ausdrücken: Ein „Markt“ braucht eben zwei Pole, ähnlich wie ein Magnet. Trotzdem wird in der Praxis häufig so getan, als ob er eigentlich aus nur einem Akteur — einer Seite — bestehen würde. So fragt man als poten tieller Kunde/Auftraggeber nach dem günstigsten Preis für eine spezifische Leistung und übersieht dabei, dass der Anbietende womöglich andere Beschäftigungs oder Verdienstchancen im Hinterkopf hat: Der Preis müsste diese überbieten. (Der Fach begriff, der hier gebraucht wird, heißt Opportunitätskosten.) Handelt es sich bei dieser Einseitigkeit tatsächlich um eine Fehlauffassung des Marktes, oder nur um die Ichbezogenheit, die in anderen Gefilden sonst zu beobachten ist?

Potentielle Auftraggeber zeigen des Öfteren eine Erwar tungshaltung — der Kunde bildet sich ein, König zu sein und somit ein Recht auf (zum Beispiel) unbezahlte Angebote, Proben und Zusatzdienstleistungen zu haben. Da mit Zeit verträgen und der Zunahme der unfreiwilligen Freiberuflich keit sich die Szene insbesondere zugunsten der Auftraggeber gewandelt hat, drängt deren Erwartungshaltung immer stärker vor.

VII.
Man mache ein Angebot, gleichgültig ob nun als potentieller Auftraggeber oder Auftragnehmer, und der Empfänger überprüft dieses. Bei der Überprüfung kann Verschiedenes mitspielen.

Man geht davon aus, dass das Angebot einigermaßen markt gerecht ist. Wenn man dies bezweifelt, holt man weitere Ange bote ein. Man kann diesen Vorgang aber anders beschreiben: Man geht zum Markt hin, um den Preis des Angebotes zu kontrollieren und ihn vielleicht auf dem Verhandlungsweg mit dem ursprünglichen Partner zu drücken oder gegebenenfalls zu erhöhen. Dabei wird wenig beachtet, dass Dienstleistungen & Waren und Zuverlässigkeit & Qualität allesamt selten vergleich bar sind.

Idealerweise hätten zwei Geschäftspartner den gleichen Kenntnisstand, dies kommt aber praktisch nicht vor. Meistens hat ein Geschäftstüchtiger kein Interesse daran, einen trans parenten Markt herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten, im Gegenteil. So kann man in jedem Bereich — von der Konsumenten ebene bis hin zu Mergers & Acquisitions — beobachten, wie mit Ideenvielfalt versucht wird, die Sachen zu verkomplizieren oder die Sicht zu vernebeln. Am harmlosesten ist noch der Psychotrick, die Ladenpreise mit Endziffer „99“ auszustatten („auf einmal steht €3,99 da, wo man vom letzten Mal im Kopf €3 hat, denn €2,99 rundet man immer auf; oder hat man dies mal die Aufrundung verpennt? Ist der Artikel teurer geworden, oder täuscht das Gedächtnis.“).

Hinter mancher minuziösen Preisangabe steht die Praxis der spurious precision, also einer oberflächlichen, weit hergeholten und vordergründigen Genauigkeit, die an den Bemessungs möglichkeiten vorbeigeht. Auf Ebene der gesetzlichen Berichterstattung der Unternehmen und auch sonst wird viel Energie dafür aufgebracht, Zahlenwerke zu erstellen und zu vergleichen, die auf Spielereien hinauslaufen, dafür aber so ernst genommen werden, wie sonst nur der Spielsüchtige seine wirren Spekulationen sieht. Andererseits geschieht diese Verwischung bis zu einem bestimmten Grade rechtens. Eine künstlich hergestellte Vergleichbarkeit kann Anbietern und Abnehmern gleichermaßen schaden, wenn die vorgebliche Transparenz wesentliche Unterscheidungen übertüncht. Wenn das Gegenüber seine Geschäfte so oberflächlich abwickelt, dass es sich mit bekannten psychologischen Mitteln hinters Licht führen lässt, wird man widerwillig gezwungen, das Spiel mitzumachen oder Gegenmittel einzusetzen. Man möchte noch so gerne die Geschäfte auf Augenhöhe betreiben und die Transparenz gelten lassen, soweit diese tatsächlich erreichbar ist: Liegt die Wirtschaftskultur einmal im Argen, muss man sich dieser einigermaßen anpassen. Wenn man aus rechtschaffener Überzeugung gegen den Strom schwimmen will, so muss man überlegen, wo und wie dies möglich ist.

Die Beziehungen sind asymmetrisch. Vertrauen und Glaubwürdigkeit spielen groß mit, soweit vorhanden. Darauf bauen die Marken. Werbung und Abwandlungen der Werbung (zum Beispiel, Öffentlichkeitsarbeit und der letzte Schrei: CSR, corporate social responsibility) dienen der Desinformation, da einseitig, und somit dem Abbau der Transparenz. Dieser Angriff auf Transparenz wird staatlich gefördert, denn die Ausgaben für Werbung gelten als betriebliche Kosten und sind somit steuerlich absetzbar. Letztlich handelt es sich bei einem Großteil der Werbung um eine Art staatlich subventioniertes Wettrüsten.

VIII.
Den großen Markt, von dem immer die Rede ist, gibt es also recht selten. Man denkt dabei zunächst an Marktplätze, die von ihrer Charakteristik her eher Ausnahmen bilden: an die Börse oder den Wochenmarkt, inzwischen auch an Auktionen im Internet. Im Alltag der meisten Bürger, Konsumenten oder kleiner Gewerbetreibender, spielen Marktplätze nach diesem Muster selten eine Rolle. Die Wirtschaft ist verzwickter, unser Austausch miteinander vielschichtiger, als die Ideologen des Marktes es haben wollen.

Auch wenn wir von fiktiven, wirtschaftlich handelnden Menschen (dem Homo oeconomicus) ausgehen, gehört — hier zusammenfassend — viel mehr zum Markt als zunächst gedacht.

Es gibt auch die Worte Marktwirtschaft, Marktplatz und marktgerecht; dann noch den Bezug des Marktes zum Begriff Kapitalismus, der eines Kapitels für sich bedarf. Wir haben, in unseren jeweiligen Zeitgeist eingebunden, eine vage Vorstellung von dem relativen Wert der Gegenstände, der Produkte & Dienstleistungen und somit auch eine Ahnung von ihrem Tauschwert: Das war schon immer so, auch bevor das erste Geld geprägt wurde. Da gab es aber keinen Markt, obwohl man das Wort Markt hier durchaus bemühen könnte.

Es wird gern vom Gesetz von Angebot & Nachfrage gesprochen, gewissermaßen den Vorstufen des Marktes. Verfänglicher ist das Gebot der Transparenz und der Symmetrie: Informations defizite sind nicht aus der Welt zu schaffen. Bis zu einem bestimmten Grad handelt es sich zudem um Subjektives, besonders, wenn es um Absichten geht.

Viele gedachte — also eigentlich imaginäre — Probleme haben aber mit dem Drang nach spurious precision, nach einer unmöglichen Feinmessung, zu tun. So genau lässt sich das Leben nicht rechnen, berechnen, ausrechnen. Man mag einwenden, es gäbe Situationen in verarmten Familien, wo es doch auf die letzten Münzen ankommt. Es gibt auch die hehren Aussagen der Finanzminister, nach denen aufgrund teuer ausgearbeiteter Haushaltspläne die Notwendigkeit ihrer Einschnitte unbestreitbar ist. Es handelt sich aber nicht um Belange, die mit Markt & Märkten zu tun haben. Dass die Politik ihr Versagen gern auf andere Bereiche und vermeint liche Sachzwänge auslagert, dürfte keine neue Einsicht sein. Hier ist aber der Markt kein Gegenüber, das wie ein zorniger Gott beschwichtigt werden muss, sondern eine Interessen gruppierung, deren Belange mehr oder auch weniger berechtigt sind. Es geht rundum um vermeintliche oder tatsächliche Macht, um Positionierung und um Glaubwürdigkeit. Dabei ist der Markt selbst — auch der Finanzmarkt — lediglich Mittel zum Zweck.

An dieser Stelle lassen sich die Fäden ein wenig zusammen führen. Vorher war von Geld die Rede, und mitunter davon, dass dieses sowohl Tauschmittel als auch Speichermedium für Werte beziehungsweise Verpflichtungen ist. Lange bevor Geld als Tauschmittel erfunden wurde, dürften Märkte ihren Lauf — wenn auch mühselig — genommen haben. Mit der Erfindung des Geldes konnten sie wohl aufblühen und ihre erste Blütezeit (und Blüten!) erleben. Bei dieser Überlegung handelt es sich aber nicht nur um eine plausible historische Vermutung, sondern um eine streng nachvollziehbare — also logische — Verbindung, denn ohne den Gedanken des Austausches und somit des gedachten Marktes wäre Geld selbst nicht denkbar.

Hier können wir unseren bisherigen Ansatz überdenken. Es geht darum, wie wir den Markt definieren. Begonnen haben wir mit dem Szenario eines Austausches, wo eine Alternative so vorliegt, dass man sich nicht auf ein Ja oder Nein zum Tausch überhaupt festlegt, sondern eine Wahl trifft (man entscheidet sich nämlich für das günstigste Angebot). Es handelt sich jeweils um das Hier und Jetzt. Im Hinterkopf hat man aber sehr wohl, dass zu einer anderen Zeit oder an einem erreichbaren Ort andere Bedingungen herrschen könnten. Wie diese Bedin gungen genau ausfallen könnten, weiß man freilich nicht. Man hat aber seine Erfahrungen gemacht, oder die Erfahrungen von anderen zur Kenntnis genommen, und somit hat man eine grobe Ahnung. Somit ergibt sich die erste Vorstellung eines fairen Preises.

Die Märkte lassen sich einigermaßen zusammenfassen, nicht zuletzt, weil sie auch untereinander Handel betreiben können. Wenn vom freien Handel geredet wird, geht es vornehmlich wohl darum, dass die Märkte nicht künstlich gegeneinander abgeschottet werden. Somit lassen sich Ver allgemeinerungen (hier über Preise und Qualitäten) ableiten, die einerseits — nach der einen Perspektive — immer gerechter, weil gleichmäßiger sind, andererseits immer ungerecht, da undifferenziert.

Mit Verallgemeinerungen sollte man behutsam umgehen. Aber auch mit den großen Worten, anhand derer so schnell Lippenbekenntnisse geliefert werden.

Ein Wort noch zur Anthropologie des Austausches. Wir bilden uns leichtfertig ein, das Geld wäre zuerst entstanden, dann erst der Kredit. Menschlich aber entstand wohl zuerst ein Schuldverhältnis: Die (noch halbwegs übersichtliche) Gesellschaft bestand mitunter aus einem filigranen Geflecht von unbezifferten Verpflichtungen und Anerkennungen, die man als gegenseitige Schuldigkeit und Verbundenheit verstehen konnte, soweit es nicht um unmittelbare Machtverhältnisse ging. Erst später entstand das Geld, um die Schulden beziffern und ablösen zu können (insbesondere gegenüber dem Herrscher in der Form von Steuern). So besteht das Papiergeld auch nur aus Schuldscheinen.

IX. Gewinnmaximierung
Die Gewinnmaximierung ist endlich auch bei vielen derjenigen in Verruf gekommen, die sie lange begrüßt haben. Trotzdem macht diese Ideologie noch die Runde, wenn auch nur in der Form, dass eine Erhöhung der Gewinne als übergeordnetes Ziel angesehen wird, wobei die Nutznießer aber inzwischen einsehen, auch andere Aspekte des Wirtschaftens zumindest mit Lippenbekenntnissen berücksichtigen zu müssen.

Es ist hier vorerst nicht das Thema, dass das Ziel, den Gewinn zu maximieren, verwerflich oder vertretbar wäre. Der Fehler liegt vielmehr darin, dass es gedanklich Unsinn bildet. Man kann sich auch beim schlimmbesten Willen nicht realistisch vornehmen, den Gewinn zu maximieren.

Man kann es freilich sehr wohl darauf absehen, die Gewinne in einer bestimmten Zeitspanne — etwa in den nächsten drei Jahren — zu maximieren. Dafür dürften die Gewinne in den Jahren danach — soweit vorhanden — niedriger ausfallen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Dafür würde man auf Wachstum verzichten. Dafür Anlagevermögen veräußern.

Dafür würde man sein Humankapital verlieren, denn die Tüchtigen und Fleißigen würden abwandern, soweit sie nicht bereits abgestoßen wurden.

Manche Andere zehren noch von den Erlösen einer derartigen Unternehmensstrategie. Das Schlagwort der Gewinn maximierung ist ihnen und ihrem Projekt zugute gekommen. Ideologien haben immer Gewinner und Gewinnler, und diese finden schnell Ideologen. Mit der Fixierung auf Quartalsberichte läuft die kurzfristige Sichtweise weiter, damit einige Wenige längerfristig viel mehr haben und die Vielen viel weniger. Es spielen aber auch Ambition und Hybris mit. Die vorerst guten Zahlen sind gut für das Selbstbewusstsein und den Antritt der nächsten Stelle. So hat man sich nicht nur Geld sondern auch Geltung verschafft.

X.
Bei dem Gedanken der Gewinnmaximierung kann man sich — hier ausführlicher — fragen, wie das denn vonstatten gehen soll. Dabei ist die Form des Gewinns zu berücksichtigen. Welchem Steuersatz unterliegt dieser Gewinn und in welchem Land? Wie wird der steuerliche Gewinn berechnet? Werden Gewinne ausgelagert, zum Beispiel in Familienstiftungen, hohe Honorare, wirklichkeitsferne Abschreibungen? Wem kommt der verbliebene Gewinn zugute? Und — nochmal — die Frage, wann denn überhaupt der Gewinn maximiert werden soll.

Als erstes ist zu beachten, dass man sich nicht vornehmen kann, den Gewinn zu maximieren: Man kann dies — wenn schon — nur über Umwege erreichen (wie sonst vieles im Leben). So geht man ganz anders gearteten Aktivitäten nach. Man muss sich wohl mit den Produkten, den Dienstleistungen, den Kundenwünschen und der Konkurrenz befassen. Man muss die sinnvolle Zuarbeit der Belegschaft gestalten und sie motivieren. Man muss zuverlässige Lieferanten haben. Wenn man sich um diese Voraussetzungen gekümmert hat, kann es mit etwas Glück sein, dass man über eine längere Zeit den Gewinn tatsächlich erhöht.

Ob er nun wirklich maximiert wurde, kann man allerdings nie wissen, höchstens vermuten. Und man hat in diesem Fall den Gewinn nicht dadurch maximiert, dass man ständig auf ihn geschielt hat, sondern dadurch, dass man sich mit anderen Dingen — oder „Werten“ — befasst hat.

Wenn erkennbar wird, dass ein Unternehmen sich allein auf die Erzielung von Gewinnen ausrichtet, geht ein Stück Motivation verloren. Es ist eine törichte Psychologie — oder Soziologie — zu glauben, man könne die Menschen in diesem Ausmaß bestimmen. Auch bei unserem persönlichen Handeln außerhalb des wirtschaftlichen Rahmens schwingen immer mehr Beweggründe und Überlegungen mit, als wir uns im ersten Augenblick bewusst sind.

XI. Produktivität, Effizienz und weitere Sachzwänge
Die Produktivität ist ein Wunder der Neuzeit, das lässt sich kaum bestreiten, nur ein wenig weniger wunderbar als der Zauber der Reproduktivität. Je mehr Produktivität, desto besser, so sagt sich unsereiner mit einer Denkweise ähnlich derjenigen des Herrgotts aus dem Alten Testament, der befahl, als er noch salonfähig war, Vermehret Euch! Und doch: Wo hört sie auf, nicht nur die Reproduktion, sondern die Produktivität, die allseits beschworene Effizienz?

Vielleicht jetzt, da, wo viele Menschen, um die es letzt endlich gehen sollte, keine sinnvolle Beschäftigung — keine Aufgabe — mehr haben dürfen.

Die Menschen der Masse werden sich so lange vermehren, wie es nur geht, so will es das Naturgesetz. Man schaut auf den nächsten und jüngsten Nachkommen, nicht auf den fernsten. Nur Krankheit, Krieg und Hunger bringen die Masse davon ab, die vorhandene Identität mit der biologischen Reprodu zierbarkeit zu verwechseln, anstatt sich eine reichhaltige alternative Identität zu suchen. Die schönmalerische Welt von heute bekämpft gewissenhaft zwar alle drei althergebrachten Plagen zunächst halbwegs erfolgreich, auf lange Sicht jedoch vergeblich. Da wäre es besser, sich bereits heute darüber Gedanken zu machen, wie wir woanders hinsteuern könnten.

Es geht hier auch um die Infragestellung des Kapitalismus beziehungsweise dessen Verständnis. Nicht des Kapitals, wohl bemerkt, denn Kapital, das sind nur Ersparnisse, im besten Fall vernünftig angelegt; sondern es geht um die Infragestellung der Dynamik, die sich entwickelt, wenn keine Politiker und auch sonst keine Wortsprecher vorhanden sind, die willens sind, den Ausartungen entgegenzusteuern. Damit ist nicht das Kapital schuld, sondern dessen Steuerung.

Vor einem halben Jahrhundert, zu anderen Zeiten, hat ein Vordenker der heutigen Wirtschaftswissenschaften und der Europäischen Union das Wort von der „kreativen Zerstörung“ geprägt. Inzwischen müssten wir etwas weiter sein, sind es aber nicht. Zerstörung gerne, aber im Schritttempo bitte, im Gleichschritt mit der naturgegebenen Alterung der Menschen geschlechter. Sonst ist es aus mit der Kreativität.

Die Herausforderung besteht nicht mehr in der Steigerung der Effizienz, es sei denn, diese diene der Versorgung der steigenden Bevölkerungszahlen, so als ob man an Bevölkerung wie Köchen nie zu viel haben könnte: Ein Großteil der Arbeits leistung besteht schon heute darin, aufeinander aufzupassen, beziehungsweise das Verhalten der Anderen zu beeinflussen.

Kaum einer, der sie nicht hautnah kennt, verspürt noch die atemberaubende Leistung der Industrieanlagen und der Logistik — und jeder nimmt das alles als selbstverständlich hin. Das haben wir jedoch den Ingenieuren und Technikern aller Couleurs zu verdanken, tun es aber nicht; beziehungsweise nur begrenzt über Boni, Tantiemen und Spesen. Diese erhalten aber eher Jongleure einer anderen Gattung.

Ein Volkswirt des neunzehnten Jahrhunderts hat sich mit einer Dynamik des Kapitals befasst, die in abgewandelter Form weiterhin oder jetzt erst recht wirkt. Ein Franzose des Zwan zigsten hat die Vergeblichkeit dieser Dynamik verspottet. Denn ihm zufolge haben wir es mit dem Problem des Überflusses zu tun und keineswegs mit dem Mangel. Wie das lösen? Kathe dralen bauen? Konsumkathedralen? Mönche beten lassen? Den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr Menschenopfer bringen? Besser noch: Neue Ineffizienzen erfinden. Werbung machen. Mathe spielen, Derivate erdenken. Die Athleten schneller laufen lassen.

XII. Werbung
Bei der Werbung handelt es sich — so könnte man formulieren — um eine real existierende Ideologie. Genauer gesagt: Wer etwas anzubieten hat, ist heute darauf angewiesen, Werbung für sein Angebot zu machen. Und sei sein Angebot noch so gut. Früher hat sich so etwas herumgesprochen, da waren die Leute wild und froh darüber, dass etwas, was sie brauchten, überhaupt zu haben war. Demnächst wird vielleicht wieder mehr herumgesprochen, wenn die social networking sites und sonstigen Gerüchteküchen sich fortentwickeln. Im Übrigen leben aber auch diese vorerst nur von der Werbung; (es wäre auch anders denkbar).

Das Thema hier aber ist nicht die aufgezwungene Praxis, sondern der Wildwuchs der Werbung über alle Sparten hinweg — und die Denkdefizite — dahinter. Kaum eine Rechnung, wo nicht noch eine Werbebotschaft darauf ist. Daneben gibt es Straßen laternen, an denen bedauerlicherweise noch keine Reklame klebt. Man erkennt zwar nicht mehr, in welchen Bahnhof der Zug gerade eingefahren ist, dafür liest man bequem, wo man einzukaufen hat. Es wird sogar für Monopole geworben. Am liebsten mit einer Melodie, einer Farbgebung, einem Spruch. Alle kurz gehalten. Ganz nach den Gesetzen der Gehirnwäsche. Die Werbung wird als Motor der Marktwirtschaft gepriesen.

Sie stellt den Verbrauchern — aber auch den industriellen „Bedarfs trägern“ — „Informationen“ zur Verfügung. Diese wüssten wohl sonst nicht wohin mit ihrem Geld. Oder sie würden sich sonst verirren und den „falschen“ Anbieter wählen.

Und wenn es anders wäre? Wenn die Informationen gar keine wären, sondern Desinformation? Weil auf Vollständigkeit der Aussagen keinen Wert gelegt wird? Weil nicht Information sondern Image vermittelt werden sollte? Weil mit dieser Über flutung an Reizen und halben Witzen der Bürger abgehalten werden soll, sich über Wichtigeres Gedanken zu machen? Seine sonstige Umwelt wahrzunehmen? Auf seine Mitmenschen zu achten?

Wie wäre es, wenn die Werbung eigentlich zum Ziel hätte, das Marktgeschehen zu verfälschen? Wenn die Werbung darauf abzielt, den freien Fluss der Informationen und Entscheidungen zu verhindern? Wenn sie mit Manipulationen die Marktgesetze unterwandert? Dafür sorgt, dass das Spielfeld schräg steht? Wäre es anders als das, was wir zum Überdruss erleben?

In der Deutschen Demokratischen Republik gab es Ideo logie überall, sie war aber so ungeschickt und plakativ, dass niemand sie (weder die Ideologie noch letztlich die Republik) ernst nehmen mochte. In der Bundesrepublik — und natürlich auch sonst in der neuen Weltordnung — ist es anders. So sieht halt eine gelungene Ideologie aus.




Die Entwertung der Freiheit



Unter den Beförderungsbedingungen der Nahverkehrsbetriebe reicht es nicht, eine Fahrkarte zu besitzen, diese muss auch entwertet werden. Beim Geld ist es prinzipiell nicht anders: Dieses kommt erst zur Geltung, wenn man es ausgibt. Dann hat man es aber nicht mehr.

Viel anders ist es bei der hochgepriesenen Freiheit auch nicht. „Übermorgen habe ich frei, da können wir uns treffen.“ „Einverstanden.“ Jetzt aber ist der Termin besetzt. Die Freiheit nützt nicht, wenn man nicht willens ist, sie im Sinne einer Selbstverpflichtung aufzugeben. Somit befruchtet die Freiheit erst in dem Augenblick, da sie entwertet wird.

Es wird gern über den Wert der Freiheit geredet. Kann man aber sagen, dass sie einen Wert darstellt? Ist sie nicht eher die Voraussetzung für das Setzen von Werten, soweit man sich der Sprache von „Werten“ bedienen will?

Anders verhält es sich freilich bei Freiräumen. Da versteht es sich, dass diese beschränkt sind, dafür hat man innerhalb dieses Rahmens Wahlmöglichkeiten. Somit wäre Freiheit nicht absolut sondern nur bedingt erstrebenswert. Man müsste wissen, was man damit anfangen will.

Es gibt einerseits die Freiheit von äußeren, andererseits von inneren Zwängen. Ist man aber ganz frei von Einflüssen — muss man gar nichts und niemanden berücksichtigen —, so handelt man nur noch beliebig: man hat sich der Willkür hingegeben. Man kann sich dann nichts mehr vornehmen, denn erst da, wo es einen Halt gibt — wo Reibung entsteht —, kommen die Sachen in Bewegung. Eine absolute Freiheit ist absolut wertlos.

Es geht vielmehr um die Zuerkennung und Verteilung von Freiräumen. Bedeutung und Sinn entstehen erst dadurch, dass Verbindungen hergestellt werden. Dazu gehört Verbindlichkeit.

So erhält der Begriff „Freiheit“ erst einen Sinn, wenn er im Gesamtzusammenhang der weiteren großen Begriffe verstanden wird. Die „großen Begriffe“ sind zum Beispiel die sogenannten „Werte“ wie Menschlichkeit, Liebe, Respekt oder Toleranz und ihre scheinbaren Widersacher wie Macht, Disziplin und Gerechtigkeit. Das sind aber keine Begriffe, die unter einen Hut wie etwa Äpfel, Orangen und Bananen zu bringen sind. Sie sind eher wie grammatikalischen Wortgattungen, nämlich Substantiv, Verbum, Präposition, Artikel, und so weiter mit je einer anders gearteten und schwer definierbaren Rolle innerhalb eines — im besten Fall — gewogenen, geschwungenen Satzes.

Man mag ferner politisch eine positive von einer negativen Freiheit unterscheiden. So wird sonst das gleiche Wort Freiheit benutzt gleichgültig, ob es sich um die Möglichkeiten der per sönlichen Entfaltung oder um das Ausbleiben von künstlichen Zwängen handelt. Das Setzen von Zielen setzt die Fähigkeit voraus, sich an deren Umsetzung heranzumachen: man will in der Welt nicht nur träumen sondern agieren können. Das ist aber schon anders als Gefangener der Not zu sein, oder Opfer der Einschüchterung.

Freiheit wäre demnach eine Grundeinstellung; der Aus gangspunkt. Im Englischen die „default position“, die man erhält, wenn man die ResetTaste drückt.